Begleittext zum Projekt Dessau-Törten

Die Siedlung Törten war ein Auftrag der Stadt Dessau an den Bauhaus-Direktor Walter Gropius, um Angehörigen der unteren Mittelschicht den Erwerb von Grund- und Hauseigentum zu ermöglichen. 1926–28 entstanden 314 Häuser für 314 Besitzer, die ihre Bauten schon bald nach dem Einzug im Spannungsfeld zwischen Denkmalpflege, Ökologie, öffentlichen und privaten Interessen schon bald nach dem Einzug ausbauten und umgestalteten.

In der Aufbruchsstimmung des Dessauer Bauhauses wurde in Törten versucht, die Prinzipien des Neuen Bauens zu industrialisieren und auf den preiswerten Massenwohnungsbau anzuwenden. Gemessen an den Bauten der vorangegangen Gründerzeit und des Jugendstils war dies eine bautechnische und wohnästhetische Revolution.

Nach drei Staatssystemwechseln, diversen Baumoden und nicht zuletzt dem Aufkommen von Baumärkten ist von Gropius’ ästhetischem Minimalismus und der ursprünglichen Einheitlichkeit nicht viel übrig geblieben. Die Veränderungen der Häuser und Straßenzüge sind so weitreichend, dass ihre in historischen Fotografien überlieferte ursprüngliche Gestalt, der in sie eingewobene Zeitgeist und die mit ihr verknüpften Orientierungen nur noch zu erahnen sind. War für Gropius eine industrielle Erscheinung von Wohnbauten zeitgemäß und erstrebenswert, haben sich spätere öffentliche Maßgaben und private Wohnvorstellungen nachhaltig davon abgewandt.

Ausstellung und Buch nähern sich diesen baulichen Überformungen der Siedlung, indem sie sie als authentische Lebensäußerungen thematisieren. Sie beschreiben deren über 80-jährige Geschichte und zeigen sie in ihren individuellen Eigenarten, ohne den architekturhistorischen Hintergrund dieser prominenten Siedlung der Weimarer Republik aus den Augen zu verlieren.


 

  Reinhard Matz, Juli 2006