Reinhard Matz
Räume oder Das museale Zeitalter
Ein Essay

(hier nur der erste und letzte Abschnitt.)
  Wenn ich einen Raum betrete, schaue ich mich um und schnuppere. Ist es hier gefährlich? Ist der Ausgang gesichert? Wer ist noch im Raum? Muss ich meine Anwesenheit rechtfertigen? Wenn ja, wie? Wie gut ist die Luft? Fühle ich mich hier wohl? Welche Atmosphäre strahlt der Raum aus? Wie ist er proportioniert? Von wo kommt wieviel Licht? Was sehe ich durch die Fenster? Wie ist der Raum eingerichtet? Könnte ich ihn für meine Zwecke nutzen? Wieviel müsste ich dafür aufwenden? Wie wird der Raum beheizt? In welchem Zustand befindet er sich? Wo würde ich was aufstellen? Von wo kommt wieviel Lärm? Wohin führen die Türen? Welchen Veränderungen wird der Raum durch den Wechsel der Tages- und Jahreszeiten ausgesetzt? Wie wird der Raum genutzt? Wurde er immer so genutzt? Wenn nicht, wie dann? Was erzählt er mir über seine Benutzer? Gibt es irgendwelche Besonderheiten zu entdecken? Ist es hier sauber? Wo sind welche Verkehrsanbindungen? Wo ist die nächste Bäckerei? — Kurzum, ich versuche, mich in dem Raum einzurichten.

Es gibt aber Räume, die meinem Wunsch, mich einzurichten, widerstehen — sei es durch ihre Atmosphäre, ihre Proportion oder ihre Größe. In ihnen versagt die Vorstellungskraft, sie mit meinem Leben durchwirken zu können. Nichtsdestoweniger üben diese Räume eine nicht nachlassende Anziehung auf mich aus. Sie interessieren mich und bleiben mir fremd zugleich. Sie werden nicht Teil von mir und doch bin ich gern in ihnen.

Heute ahne ich, dass es in einer gewissen Konsequenz lag, diese Räume fotografisch zu thematisieren. Die der Fotografie eigene Hinwendungsweise aus Annäherung und gleichzeitiger Distanzierung, aus genauer Betrachtung und Neutralität entspricht meiner Empfindung in diesen Räumen ebenso, wie das Werkzeug Kamera den Blick miterzeugte, mit dem ich meine Umwelt in ein Verhältnis zu mir setze, mit dem ich sie mir ordne, selektiere und zurechtlege, sie belebe oder zu einem Thema mache.

Ich forciere hier meinen subjektiven Zugang, um zu verdeutlichen, dass es weder im Text noch in den Fotografien um die Entfaltung oder Illustration einer Architekturtheorie geht, nicht um Maßgaben für künftiges Bauen, nicht um eine Stil- oder Gestaltungslehre, eine Raumtypologie oder gar ein Kompendium der großen Räume Europas. Es geht nicht um Dokumentation als Ersatz oder Initiierung der Denkmalspflege — worauf wohlmeinende Liebhaber die Fotografie gern festlegen möchten. Es geht um ein spezifisches Raumempfindcn, heute. Wie dieser Text sich nicht auf einen bestimmten Raum bezieht, sind auch die dazu fotografierten Räume im Grunde austauschbar, sie interessieren nur zweitrangig im Kontreten, denn das Thema – so paradox es für Fotografien klingt – ist ein Abstraktum: das gemeinsame Empfinden, das die Räume trotz ihrer unterschiedlichen Alter, Größen, Formen und Funktionen auslösen.

Es ist anzunehmen, dass sich unser individuelles Raumempfinden an der Erfahrung der eigenen Wohnung als dem primären Lebensraum bildet. Ihn haben wir nach unseren Bedürfnissen gestaltet, hier hat alles seinen von uns bestimmten Platz, hier kennen wir uns aus, hier sind wir bei uns. Und ausgehend von dieser leib-sinnlichen Gewissheit strukturieren wir unsere physisch-psychische Wahrnehmung anderer Räume. Es ist dies eine Wahrnehmung von Ähnlichkeiten und Abweichungen, die sich jedoch nicht allein über differentielle Empfindungen bestimmt, sondern zugleich durch Imaginationen, durch Wunschbilder und Horrorvisionen beeinflusst wird. Erst aufgrund dieser Komplexion empfinden wir Räume als klein, überladen, verbaut, unübersichtlich, skurril, kahl, weit, hell, einnehmend ...

Unterschiedliche Gesellschaften prägen verschiedene Formen der Zusammenarbeit und verschiedene Mittel der Repräsentation aus, verschiedene Gelegenheiten der öffentlichen Begegnung und verschiedene Möglichkeiten von Intimität. In all diesen Bereichen spielt Raum eine so elementare Rolle, dass seine Größe und Ausgestaltung als Index des Stellenwerts angesehen werden kann, der der Raumfunktion kulturell und individuell zugeschrieben wird. Räume sind kleine, von Empfindungen und Bewusstsein durchdrungene Kosmen, die wie Projektionen auf das Selbstbefinden ihrer Benutzer verweisen und zugleich ihren Besuchern durch wahrgenommene Differenzen das eigene Befinden verdeutlichen können.

Kaum etwas scheint uns selbstverständlicher, ist uns mehr wie zur Natur geworden als unser Raumempfinden. Und doch muss dieses Empfinden viel jünger und viel labiler sein als beispielsweise die Fähigkeit, Farben und Linien zu Bildern zusammenzufügen oder die Kenntnis der Regeln, nach denen Striche zu Schrift zusammengestellt werden. Zum elementaren Maßstab der abendländischen Bild- und Raumerfahrung wurde die Zentralperspektive, jene geometrische Raumprojektion auf die Fläche, die — wiewohl sie uns quasi natürlich erscheint — kaum 6oo Jahre alt ist. Ihre automatisierte Herstellung und bildhafte Fixierung durch die Fotografie gibt es sogar erst 150 Jahre. Mit dieser wechselseitigen Durchdringung von Bild- und Raumerfahrung, die den Schauenden in seiner perspektivischen Wahrnehmung als Zentrum seiner jeweiligen Weltsicht bestätigt, werden sowohl stabilisierende Subjekteffekte geschaffen als auch Welterfahrung durch Parallelisierung in einem einheitlichen Wahrnehmungsmodus angeglichen. Aber damit wird auf der Ebene der Wahrnehmungstechnik nur verkittet, was auf der Ebene der Lebenspraxis zersplittert, sich differenziert und variiert. Aufgrund unserer Mobilität, den sich ausweitenden Techniken und Medien, ist unsere Raumerfahrung einer ständigen Wandlung unterworfen. Die Bewegungen durch Reisen, Arbeits- und Wohnungswechsel, das Auto und das Fernsehen unterlaufen jede denkbare Fixierung, und die Vorstellung eines stabilen Raumempfindens kann nur als luxuriöses Gegenbild verstanden werden, als Kunst eben.

In seiner "Italienischen Reise" notierte Goethe, sich des Paduanischen Salone im Palazzo della Ragione erinnernd, "dass der ungeheure üherwölhte Raum eine eigene Empfindung gibt. Es ist ein abgeschlossenes Unendliches, dem Menschen analoger als der Sternhimmel. Dieser reißt uns aus uns selbst hinaus, jener drängt uns auf die gelindeste Weise in uns selbst zurück". Und er fährt fort, wie er sich in die ähnlich große Basilika der "heiligen Justine" zurückgezogen habe: "Heut‘ abend setzt‘ ich mich in einen Winkel und hatte meine stille Betrachtung; da fühlt‘ ich mich recht allein, denn kein Mensch in der Welt, der in dem Augenblick an mich gedacht hätte, würde mich hier gesucht haben."

Bekanntlich war Goethe aus Karlsbad mehr geflohen als abgereist. Auf der Reise hatte er seine botanischen Studien vorangetrieben, Steine gesammelt und an der "Iphigenie" geschrieben. Er hatte ein ausführliches Reisetagebuch geführt, Gemälde und Bauwerke besichtigt, das Theater und die Oper besucht, wo immer eine Aufführung war ... Da bedurfte er offenbar zuweilen des Alleinseins in einem >abgeschlossenen Unendlichen<, um sich auf diese gelinde Weise eine Beschränkung aufzuerlegen.

Vielleicht artikuliert sich in all unserer Hektik heute dieses: eine Sehnsucht nach größerer Gelassenheit und Konzentration, nach einem Zur-Ruhe-kommen jenseits privater Intimität, aber diesseits einer ins Unendliche zielenden Transzendenz. (…)

Der fotografierte Raum
Die Wahrnehmung der Fotografie eines Raums ist grundsätzlich von der des wirklichen Raums zu unterscheiden. Im Raum bin ich eingeschlossen, dem fotografierten Raum stehe ich gegenüber. Im realen Raum muss ich eine Position beziehen, als Objekt allseits möglicher Beobachtungen ebenso wie als Subjekt einer mir angenehmen Blickrichtung: Ich muss mich verhalten. In der Raumfotografie sind diese variablen und labilen Momente durch Einzwingung in die eine, zentralperspektivische Ordnung gebannt. Diese Festlegung erzeugt subjektive Stabilisierung. Wenngleich auf anderer Ebene setzt sie aber zugleich frei: Ich kann imaginieren. — So verschiebt die Zunahme medialer Erfahrung ganz allgemein Realitätsbezogenheit ins Imaginäre.

" … Das Verlöschen der Welt in den Bildern." (Heiner Müller)

Fast ein Jahrhundert lang hatten Fotografen und Filmemacher eine besondere Vorliebe für Aufnahmen des Lebendigen, und die Theoretiker waren blind für die den Medien innewohnenden Zwangsmechanismen. Wenn schon nur distanzierte Beobachtung, dann wenigstens hautnah. Wenn schon nur sekundäre Erfahrung, dann wenigstens die echten Materials. Wenn schon nur kontemplative Betrachtung, dann wenigstens die erfüllten Lebens usw. usf. Die Aktivität und Prägnanz der Gegenstände im Bild hatte die Passivität und Apathie ihrer Betrachter zu überspielen.

All dies geschah unter dem Deckmantel scheinbar untrüglicher Information. Die Theorie ging so weit, in der Kamera ein Instrument zu sehen, mit dem physische Realität vor dem neuzeitlichen Zugriff wissenschaftlicher Abstraktion und ideologischer Entwertung zu retten sei. Vielleicht, im Bild! Nach einigen weiteren Jahren Medienerfahrung beginnt sich die Einschätzung umzukehren. Heute glauben wir eher, das Leben vor seiner allumfassenden Bebilderung schützen zu müssen, um es in seiner realen Vielschichtigkeit bewahren zu können. Mit seiner ständigen medialen Durchwirkung betreiben wir nur seine reale Verflachung, seine Neutralisierung, und schieben seine Konturen ins Imaginäre.

All die Bilder des sogenannten prallen Lebens lassen der Imagination kaum mehr als ein Spiel zwischen Identifikation und Ablehnung. Keine Zeit und kein Raum, Phantasien zu entfalten. Es ist ja alles schon da, vorgestanzt womöglich nach Mustern marktgängiger Erwartungserfüllung. Bilder, denen das Leben entzogen ist, geben der Phantasie dagegen Raum. Ich selbst kann sie mir imaginär füllen. Damit verlassen wir zwar nicht die Ebene vermittelter Erfahrung, nähern uns aber einer Umwertung der Bildpraxis, die nicht länger im Horizont von Information, Dokumentation und Ersatz aufgeht, sondern darüber hinaus auf Imagination und Intensität zielt. Die Frage ist allerdings, was fließt von dort in die Realität zurück?

Es kann ja nicht übersehen werden, dass die Verlagerung des Interesses fotografischer Produktion von der Information weg zu einer gesteigerten imaginativen Bildwirkung zugleich eine Verschiebung ihrer Referenz bedeutet. Konnte sich unter dem Eindruck bildlicher Information das Interesse bei der Betrachtung von Fotografien noch — man ist geneigt zu sagen: noch ein letztes Mal — an den Gegenständen festhalten, wird nun die thematische und formale Umsetzung der Gegenstände zum Angelpunkt der Rezeption. Referent sind weniger die reproduktiven Momente von Fotografien als vielmehr ihre produktiven, die wie Projektionen auf selbstreflektorische Prozesse der Produzenten verweisen. Fotografien zeigen nicht Welt, sondern immer deutlicher die Art und Weise ihrer Betrachtung, ihrer imaginären Aneignung.

Wie bei jeder Selbstreflexion geht auch mit dieser Verinnerlichung ein Verlust an Welterfahrung, ein weitgehender Rückzug von zumindest medial vermittelter Politik einher. Und wie jede Zurücknahme artikuliert auch diese Selbstbeschränkung Resignation, bewirkt nach außen Neutralität. Aber ist diese selbst auferlegte Neutralisierung nicht Reaktion auf längst entzogene Wirkungsmöglichkeiten? Ist diese Verinnerlichung nicht eine Konsequenz der Tatsache, dass die berichtende Funktion der Fotografie inzwischen von den schnelleren elektronischen Medien übernommen wurde? Begründet andererseits diese Verschiebung nicht auch eine Freisetzung — ähnlich der der Malerei durch die Fotografie vor 130 Jahren? Und ist erhöhte Selbstreflexivität nicht eine mögliche Strategie, angesichts der Usurpation der Welt durch die Bilder, den Bildern ihre vordergründige >Welthaltigkeit< zu entziehen, ohne sie gleich ins Unverbindliche und Bedeutungslose zu schieben?

Man kann das fotografische Verfahren als Materialisation des musealen Blicks verstehen. Hier wie dort wird konserviert, aus Zusammenhängen gelöst, gleichförmig verfügbar gemacht, in ein ästhetisches Feld transformiert, der Imagination überantwortet. Dem Lebendigen gegenüber liegt darin immer eine Gewaltanwendung: Es wird zu einem toten Objekt stilisiert. Im leeren, musealen Raum aber ist der Tod schon antizipiert. Ihn zu fotografieren, ist demnach wie die Ermordung einer Leiche, was gemeinhin als Metapher der Sinnlosigkeit gilt. Wenn aber bereits der Tod als ohne Sinn, weil ziel- und nutzlos, angesehen werden kann, ist seine scheinbar unnütze Verdoppelung Trauerarbeit, Stabilisierung des Weiterlebens.

Wie in der Trauer ein vergangenes Leben durchgearbeitet und damit abgeschlossen wird, lassen auch Fotografien vergangenes Leben noch einmal Revue passieren. Und wenn geschlossene Räume als Metaphern für Ganzheit gelten können, dann wiederholen ihre Fotografien die Illusion totalisierbarer Welterfahrung in einer Perspektive. Noch einmal stützt das Bild die nostalgische Idee, dass in einem Blick alles zu erfassen sei. Aber der Blick geht ins Leere, denn aus dieser Perspektive ist nichts mehr zu erkennen.

"Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus." (Hölderlin)

Jenseits angstgetriebener Geschäftigkeit und greller Camouflage erleben wir heute keine Phase großer Veränderung, der Gesten wegweisender Kreativität zukämen. Viel eher handelt es sich um fundamentale Ernüchterung, Entidealisierung — überlagert allerdings zuweilen durch eine recht beliebige, merkwürdig labile Reideologisierung. Zwar entfalten sich die technischen Produktivkräfte fast unter der Hand in nie gekannter Geschwindigkeit, doch sehen wir in ihnen mehr und mehr einen scheinbar unkontrollierbaren, ziellosen Selbstvollzug, der das Politische und Soziale immer weiter zurücklässt, es offenbar sogar mehr hemmt als vorantreibt. Vorsicht scheint zu walten und ist doch nur Entschlusslosigkeit; mühselige Reaktionsbildungen allerorts, die sich als nur immer hohler erweisen, je schneller die forteilenden Lebensbedingungen sie als veraltet und unangemessen dekuvrieren.

Innovativen Anstrengungen im Kulturellen ist in dieser Situation der Boden entzogen, sie verkommen zu modischen Strohfeuern. Heute geht es eher um die Zurücknahme weitreichender Projekte, um Vergewisserung der eigenen Basis, ein Kräftesammeln, bestenfalls. Und wenn es wahr ist, dass Endzeiten sich durch ein hohes Maß an Pluralität und Toleranz auszeichnen, Epochen, in denen verschiedenste Kräfte zusammenlaufen und sich eher paralysieren statt zu eigener Formgebung zu gelangen, dann bleiben der Ästhetik wohl nur die Figuren der eklektischen Differenzierung, um marktschreierischer Hektik, Idealisierung und Idylle gleichermaßen aus dem Wege zu gehen: die Wiederholung, das Zitat, die Kompilation, die Variation, die Parodie, die Ironie, das Pathos, die Beschwörung.

Angesichts der europäischen Geschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts und mit Rücksicht auf die heutigen Technologien sind diese unentschiedenen Reprisen aber vielleicht das Gelindeste, was uns widerfahren kann.

Köln, den 2. Februar 1987