Fototheoretische und fotohistorische Arbeiten und Veröffentlichungen


1981 Reinhard Matz
Gegen einen naiven Begriff der Dokumentarfotografie

"Jedesmal wenn wir, polemisch oder dogmatisch, versuchen, eine unmittelbare Beziehung anzusetzen, verfälschen wir eine geschichtliche Realität, die stets reicher und subtiler ist, als wir sie sehen."
(Umberto Eco)
  (hier nur Abschnitte 5 und 7 (Schluss))

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Begriffsanalyse. Die Schwierigkeit des Dokumentarismusbegriffs liegt darin begründet, dass in seiner stiltypologisch sinnvollen Verwendung zugleich auch immer ein zu kurz greifendes produktionsanalytisches Verständnis der Fotografie nistet. Sicherlich gibt es einen Stil, den man in Ermangelung eines treffenderen Begriffs dokumentarisch nennen mag und der in verschiedenen historisch-kulturellen Situationen mehr oder weniger Bevorzugung findet (dieses Verhältnis wäre es wert, einmal genauer untersucht zu werden). In diesem Sinne kann der Begriff sowohl fotogeschichtliche Epochen als auch ein Feld fotografischer Arbeitsweisen bezeichnen. Ein dokumentarischer Stil entwickelt sich jedoch weder aus der Gesetzmäßigkeit der Arbeitsmittel noch in Abhängigkeit von der Äußerlichkeit oder einer wie auch immer definierten Wesenheit der Gegenstände, sondern profiliert sich allein in Opposition zu anderen Formen fotografischer – oder ganz allgemein ästhetischer – Wirklichkeitsverarbeitung, zu den Phantasmagorien der Werbefotografie beispielsweise ebenso wie zu jenen Arbeitsweisen, die Andreas Müller-Pohle mit dem Begriff "Visualismus" zu umreißen versucht. So begründete John Grierson, der 1926 in einem Artikel über den Filmemacher Robert Flaherty den Begriff "documentary" prägte, seine Theorie des Dokumentarfilms ausdrücklich gegen die schlechte Künstlichkeit der Spielfilme insbesondere Hollywoodscher Herkunft.

Es bedarf bei einer derartigen Genretrennung allerdings einer historisch ausgeprägten Fähigkeit des Betrachters, diese Unterscheidung aus der ästhetischen Form des Produkts erkennen zu können, und des Einverständnisses zwischen Produzent und Rezipient, dass bestimmte Präsentationsformen bestimmte Produktionsweisen garantieren. Obwohl es ohne weiteres möglich wäre, käme wohl niemand darauf, dass Arthur Rothsteins Fotografie eines Stierschädels auf vielleicht fünf Quadratmetern ausgetrocknetem Land in einem Atelier aufgenommen worden sei. Andererseits kann die Fotografie auch niemals dokumentieren oder beweisen, dass der Schädel genau so vorfindbar dalag (bekanntlich tat er es nicht) oder dass Süd-Dakotas Erde im Jahre 1936 tatsächlich unfruchtbar war. Die Fotografie trifft auf ein bestimmtes, wenn auch nur vages Vorwissen des Betrachters, und erst das Zusammenspiel der dort gebildeten Erwartungshaltung mit den hier eingesetzten bildnerischen Mitteln, die ja wiederum nur in Vorausschau jener Erwartungen gewählt wurden — erst dieses kulturelle Zusammenspiel stilisiert die Fotografie zu einem "erschütternden Dokument" ländlicher Armut.

So sinnvoll es sein mag, in klassifikatorischem Interesse von Dokumentarismus zu sprechen, verdeckt dieser Sprachgebrauch doch immer wieder die Produktionswirklichkeit des fotografischen Prozesses. Der Begriff versucht den Betrachter zu verpflichten, eine Fotografie wie die von ihr gezeigten Dinge anzusehen — und damit ihre entscheidende Wirklichkeit zu verkennen. Das Entscheidende einer Fotografie ist nicht ihr Wiedererkennungs- oder Realitätseffekt, denn als Ergebnis von Arbeit, die letztlich immer die Transformation von Rohstoffen in Produkte mittels bestimmter Arbeitsmittel bewirkt, ist eine Fotografie kein unbestimmtes Analogon zu vorgegebener Wirklichkeit und nicht Teil von deren natürlicher Erscheinung, sondern deren Betrachtung, Hervorhebung, Besonderung, Bedeutsammachung infolge eines bestimmenden Interesses, einer Zwecksetzung, einer Funktionszuordnung im gesellschaftlichen Zusammenhang. So gesehen ist es völlig sinnlos, das Verhältnis einer Fotografie zur Wirklichkeit (und damit womöglich ihren Wert) nach den Kategorien "richtig" oder "falsch" beurteilen zu wollen, sie als wahr und dokumentarisch zu bevorzugen oder der Beschönigung bzw. gar der Lüge zu beschuldigen. Fotografien liefern Betrachtungsweisen der Wirklichkeit und niemals diese selbst. Daher ist eine radikale Trennung zwischen der Ordnung der Gegenstände einerseits und der von ihnen gemachten Fotografien andererseits zu vollziehen, die ausnahmslos der Ordnung ästhetischer Objekte angehören. Denn unumgänglich werden die Gegenstände durch den fotografischen Prozess ästhetisch überformt, wodurch das Maß des Analogischen unüberprüfbar wird und daher in seiner Bedeutsamkeit zurücktreten muss. Als ästhetische Objekte sind Fotografien sowohl in ihrer Produktion als auch in ihrer Rezeption in Bedingungen, Funktionen und Gesetze eingebunden, deren Zusammenspiel man den ästhetisch-kommunikativen Diskurs nennen kann, ein Regelsystem, das eigenen, sehr viel anderen Gesetzmäßigkeiten folgt, als durch die Ordnung der Gegenstände vorbestimmt zu sein — und es ist dieser Diskurs, der die Existenzweise, Bedeutung, Verbreitung und Konjunktur von Fotografien bestimmt.

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Neubegründungsversuch. All dies mag den Verdacht nähren, als handele es sich hier um einen späten Aufguss des Subjektivismus. Wenn die objektive oder dokumentarische Qualität der Fotografie zu bezweifeln sei, müsse sie wohl mal wieder als subjektives Instrument begriffen werden. Davon aber kann keine Rede sein, und es geht auch nicht darum, sich aus diesen beiden Sackgassen durch Anerkennung der jeweils anderen herauszumogeln.

Wenn die Kamera mehr und mehr als ein der industriellen Produktion gemäßes bildnerisches Arbeitsmittel verstanden wird, dagegen der Pinsel vielleicht nicht zu Unrecht einer eher handwerklich bestimmten Epoche verbunden bleibt und uns offensichtliche ästhetische Setzungen in ihrer Beliebigkeit merkwürdig fremd werden, so reflektiert sich in dieser Verschiebung die noch recht ungewisse Erfahrung, dass das Individuum als produzierendes Subjekt nicht mehr den Raum ausfüllt, der ihm traditionell zugeschrieben wird. Marx‘ Studien zur politischen Ökonomie, Freuds Gründung der Psychoanalyse, Lacans und Foucaults Thesen zur prägenden Gewalt sprachlicher und diskursiver Strukturen zeugen von der fortschreitenden Dezentrierung des Bewusstseins oder des Ichs, d. h. der Vorstellung eines autonomen und souverän agierenden Subjekts. Insofern kann das Werk nicht mehr als die Realisation einer im Bewusstsein des Produzenten fertigen Vorstellung oder Wirklichkeitsabbildung angesehen werden, die mit der Frage zu erschließen wäre, was denn der Autor uns hat zeigen wollen, sondern es ist als Effekt einer Vielzahl größtenteils auch dem Produzentenbewusstsein latenter Wirksamkeiten zu begreifen. Freud hat für die Struktur der Vielheit von Faktoren, die einen Traum, eine Fehlleistung oder eine psychische Erkrankung bewirken, den Begriff "Überdeterminierung" geprägt. Wenn wir versuchen, eine Fotografie entsprechend als ein überdeterminiertes Produkt zu begreifen, ist der fotografischen Betrachtung und Kritik die Anstrengung aufgegeben, angesichts von Fotografien weder allein über die gezeigte Wirklichkeit zu reflektieren, noch sie als genialen Ausdruck künstlerischer Subjektivität entgegenzunehmen, sondern vielmehr in einer symptomatologischen Analyse ihrer spezifischen ästhetischen Form, also gerade der durch sie gebildeten Differenzen zur vorgegebenen Wirklichkeit, zum Modus von deren alltäglicher Wahrnehmung und zur bildnerischen Konvention, die mit ihnen produzierten Bedeutungen zu ermitteln. Die Schlusspointe meiner Überlegungen liegt tatsächlich darin, dass sie gar nicht unbedingt auf eine andere fotografische Arbeitsweise zielen als jene zuvor kritisierten Reproduktionstheorien. Es ist nur, dass ich diese Praxis gegen Dogmatisierungen abschotte, indem ich die ästhetische Qualität ihrer Produkte als Vergegenständlichung eines Verhaltens im kulturellen und sozialen Kontext interpretiere und nicht monokausal und deterministisch aus ihren Arbeitsmitteln ableite. Allerdings versuche ich damit zugleich, das Interesse an Fotografien den vorschnellen und zu kurz greifenden Evidenzerlebnissen einer objektbesessenen und statischen Identifikation zu entreißen und auf die ihnen innewohnende Perspektivität und deren Bedingungen zu konzentrieren — um derart die Möglichkeit eines sensibleren und produktiveren Umgangs mit Fotografien hervortreten zu lassen.

(veröffentlicht in Ztsch. European Photography, Nr. 5, hg. von Andreas Müller-Pohle, Göttingen 1981 – dort mit einer Kompilation illustrierender Zitate und Bilder im Anhang, Wiederabdruck in Dokumentarfotografie. Förderpreise 1994/95, hg. von Ute Eskildsen und Sandra Ullrichskötter, Wüstenrot-Stiftung Ludwigsburg 1996 und leicht überarbeitet in Theorie der Fotografie IV. 1980 – 1995, hg. von Hubertus von Amelunxen, München 2000)