Fototheoretische und fotohistorische Arbeiten und Veröffentlichungen


  Reinhard Matz
Fotografie kann Kunst sein, ist aber keine, sondern viel Meer.

» Mir ist zwar bewusst, wie entscheidend der überlegte Einsatz
der Kamera (und des Fotografen) ist, wenn es darum geht,
künstlerischen Anspruch in die Architekturfotografie
einzubringen, aber andererseits fällt es mir schwer, diese
Meinung mit dem gebotenen Ernst zu vertreten.
«
(Julius Shulman)
»Kunst machen wir nach Feierabend.«
(Otl Aicher)
  Der Fotografie geht es gut. Seit ihrer Erfindung pochte sie mit Macht an die Pforten der Kunst. Der ging es Ende des letzten Jahrhunderts so schlecht, dass sie die Fotografie bei sich aufnahm: frisches Fleisch. Zwischen führenden Kunstmuseen, prominenten Galerien und den meisten Fotografen steht der Kunstanspruch heute nicht mehr in Frage. Fotofestivals reihen sich von Paris bis Esslingen und Mannheim. Kaum eine Großstadt, wo nicht in privaten Galerien und öffentlichen Ausstellungsräumen regelmäßig Fotoausstellungen zu sehen sind. Fotografien werden in Auktionen gehandelt und erzielen Preise, von denen vor wenigen Jahren noch niemand geträumt hätte. Bei Ankäufen durch Museen haben aktuelle Fotokünstler mit Malern und Bildhauern gleichgezogen. Fachzeitschriften unterschiedlicher Ausrichtungen berichten über Ausstellungen und Publikationen. Etwa 70 Professoren und Professorinnen lehren fotografische Praxis an über 40 deutschen Hochschulen. Zu fotografischen Spezialthemen werden Magisterarbeiten und Dissertationen angenommen. Kurzum: Die Fotografie hat es geschafft, sie ist drin!
Der Fotografie geht es schlecht. Sie wird als Kunst angeschaut und erkennt sich selbst nicht wieder. Aus der lebenslustigen Drallen der 1950er, 60er Jahre ist eine Hungergestalt geworden. Seit digitale Videoclips für das Fernsehen die avancierteste Form der Bildmedien sind, geht die Werbung mittels stehender Bilder in Printmedien zurück. Automatische Belichtung und digitale Kameras lassen immer mehr Menschen ihre Bilder selber machen. (Wer geht schon noch zum Fotografen, um ein Bild von sich zu erhalten?) 1979, vor mehr als einem Vierteljahrhundert, wurde im Katalog einer großen Kölner Fotoausstellung ein Fotomuseum zur Sammlung, Geschichte und Erforschung des Mediums angekündigt; es existiert seitdem weder in Köln noch irgendwo anders in Deutschland. In den Nachwehen der Berliner Wiedervereinigung wurde versucht, der Hauptstadt ein »Deutsches Centrum für Photographie« zu implantieren; nach aufwendigen Vorarbeiten und dem Verschleiß eines Gründungsdirektors zerbröselte das Projekt an fehlender Räumlichkeit, föderalen Vorbehalten und großsprecherischem Kleinmut zu einer Abteilung der Kunstbibliothek. Für die Geschichte und Theorie der Fotografie ist in Deutschland eine einzige Professorin bestellt (Herta Wolf in Essen). Fotografie ohne Kunstanspruch hat nach landläufiger Meinung kein Kultivierungspotential, weder museal, noch finanziell oder publizistisch. Sie trägt den Ruch von Gebrauch, Alltag und Biederkeit, – früher hätte man herabwürdigend von Zivilisation gesprochen.
Fotografie als Kunst wird freilich nicht nach medienspezifischen Gesichtpunkten behandelt, sondern mittels Kriterien verortet, die sich in der langen Tradition von Malerei und Grafik ausgebildet haben: Bildschöpfung, Autorenschaft, Handschrift, Wiedererkennbarkeit, Epochenbestimmung, Stilfortschreibung, Schulenzuordnung, Mengenlimitierung, Ausstellungsfähigkeit … Fotografie, die zu diesen Kriterien qua Genre zunächst einmal quer steht, und das sind vom Journalismus und Lifestyle, von Überwachungs-, Beleg- und Identitätsaufnahmen über Reise-, Werbe-, Mode-, Sach- und Sex- bis hin zur Autoren- und Amateurfotografie weit über 99 Prozent ihrer Nutzung, Fotografie also, die genuin nicht zur Kunst zu rechnen ist, wird als Kulturphänomen nicht reflektiert. Natürlich gibt es Ausnahmen (die nur die Regel bestätigen): In Essen gab es Ausstellungen zur Industrie- und Werbefotografie, – vor über 15 Jahren. Überwachungsbilder wurden in Karlsruhe thematisiert, Knipserfotos wurden in München, Illustriertenfotos in Köln museal gezeigt … Ein Trend ist das nicht. Und nicht zufällig ging keine dieser Ausstellungen auf Tournee.
Der Sieg, den die Fotografie im Zuge ihrer künstlerischen Anerkennung errungen hat, ist ein Pyrrhus-Sieg: Sie gewann den Einlass in den Tempel der Kunst um den Preis ihrer medialen Selbstbestimmung. Derzeit steht sie unter dem Joch einer traditionellen Kunstgeschichtsschreibung. Die unbefragte Kriterienfortschreibung der Kunstgeschichte aber macht die Spezifik der Bildmedien so austauschbar, wie das Dunkel alle Katzen grau.
Das hat Folgen bis zur Umschreibung der Fotogeschichte. Der Architekturfotograf Werner Mantz beispielsweise sah sich als ein Fotograf, der die Sonne für sich arbeiten ließ; Anfang der 80er Jahre wurde er zum missing link der deutschen Kunstfotografie stilisiert. Biedere Modeaufnahmen der 50er Jahre werden als Vorläufer der Popart interpretiert. Abstrahiert wird von Herstellungsbedingungen, Funktion, Gebrauch und Wirksamkeit. Verortet wird nach Namen und Kreativität.
Und das hat Folgen bis in die Produktion. In immer mehr Bereichen der Fotografie versucht man, innovativ zu sein. In der avancierten Modefotografie geht es längst nicht mehr darum, die stofflichen, formgebenden und verarbeitungstechnischen Eigenheiten einer Kollektion erkennbar zu machen, sondern Emotionen und Images zu schaffen, die sich mit den Produkten verbinden lassen und mit Marken zu identifizieren sind. Bei der Architekturfotografie geht es nicht um die Einfügung eines Hauses in seine Umgebung oder die Erkennbarkeit seiner Proportionen, es geht um die Eindrücklichkeit des Bildes: möglichst einnehmende Ansichten, attraktive Lichtwirkungen und effektvolle Anschnitte. Im Journalismus wird nicht ausgezeichnet, wer einen gesellschaftlichen Zusammenhang am genausten bebildert, sondern wer das mitleiderregendste oder pointierteste Bild liefert. Unter dem Druck der Konkurrenz und im Rahmen unserer immer flüchtiger werdenden generellen Wahrnehmung geht es um Aufmerksamkeitserregung und das Setzen wiedererkennbarer eigener Bildcharakteristiken. Jedes Foto ruft »Ich, ich, ich!«, um vom zu verteilenden Ruhm möglichst viel auf den Fotografen kleckern zu lassen.
Fotografie trat an, um Ansichten der Welt in kommunikative Zusammenhänge zu tragen. Unter dem Diktat von Kunst und Kreativität schleichen sich in diesen Zusammenhang Subjektivität, Repräsentation und Verklärung ein. Im Zweifel gegen die Tatsachen und für die schönen – oder zumindest attraktiven – Ansichten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reagierte die konservative Seite der Malerei auf die Erfolge der Fotografie, indem sie sich auf übergroße, auf Repräsentation bedachte Formate kaprizierte, die der Fotografie seinerzeit nicht möglich waren. 150 Jahre später konnten wir das gleiche Phänomen seitens der Fotografie beobachten, die damit versuchte, dem Ansturm digitaler Bildmedien zu entfliehen. »Struffsky«, eine Wortschöpfung, die despektierliche Marktbeobachter für das Trio der erfolgreichsten Düsseldorfer Becher-Schüler Thomas Struth, Thomas Ruff und Andreas Gursky fanden, um die Ähnlichkeit ihrer ästhetischen Ansätze, Auftritte und Ausrichtungen zu karikieren, sie sind die Makarts der vergangenen Jahrhundertwende. So, wie der Monumentalmaler Hans Makart den Pomp und die Legitimationsbedürfnisse des in der Industrialisierung reich werdenden Großbürgertums artikulierte, so bedienen die Becher-Schüler formal und thematisch die Repräsentationsbedürfnisse der Gobalisierungsgewinner. In Formaten, die nur in sehr großen Räumen zu hängen sind, liefern sie beschauliche Ansichten von paradiesischer Natur und Straßen in aller Welt, Bilder vom Sternenhimmel, von den Möglichkeiten visueller Kontrolle und ungebremster Schaulust sowie Übersichten von den Schauplätzen des weltweiten Handels, Verkehrs und Amüsements. Oder in der entlarvenden Formulierung Georg Imdahls: »Die Farbfotografie im XXL-Format hat einem dankbaren Publikum vorgeführt, wie einfach und eingängig moderne Kunst sein kann, wie opulent, betörend und brilliant, wenn sich in den großen, gediegen gerahmten farbigen Bildfenstern exotische Dinge vom fernen Reiseziel bis zur exklusiven Welt von Mode und Konsum zeigen.« (Kölner Stadtanzeiger 30.7.04) Dass diese großformatigen Verklärungen unserer Welt maßgeblich durch Steuerabschreibungen derer finanziert werden, die ihren Zustand wesentlich zu verantworten haben, mag als gehässige Anmerkung hintangestellt bleiben.
Nein, wenn heute über Fotografie gesprochen wird, geht es nicht um historische, kulturelle oder gesellschaftliche Aktivität und Reflexion, es geht um das allgemeinste, banalste und konservativste gesellschaftliche Bindemittel: es geht um Geld. 1,2 Millionen Mark für einen Gursky, 400 Tausend Euro für achtzig Neuprints von Eggleston, wen interessieren da noch Bildinhalte, die Funktionen der Bilder, Rezeptionsmotive oder fehlende Ideen von Kuratoren?
Übrigens gerät diese Entwicklung der Protzfotografie zum großen Geld und Format bemerkenswert gegenläufig zum derzeit deutlich spürbaren sozialen Trend finanzieller Verknappungen. Das habe nichts miteinander zu tun, sei Sozialneid? Was Sie nicht sagen! Ich behaupte: »Struffsky« ist ein Kind der satten, konservativen Repräsentationskultur der 1980er Jahre, die auf Opulenz und Überwältigung zielte, während zeitgemäße fotografische Strategien auf Information, kommunikative Gebrauchsorientierung und bildnerische Ökonomie setzen.
Seit der Photokina 2004 hat die Zahl der verkauften Digitalkameras die der analogen überflügelt. Sieben Millionen in angeblich über tausend Varianten sollen es in diesem Jahr allein in Deutschland werden, Bildhandies nicht eingerechnet. Natürlich hat das Konsequenzen für den Bildergebrauch, die Ästhetik und die schlichte Zahl der produzierten Fotos. Aber welchen Niederschlag findet diese Entwicklung in der Kunst- besser: Bildgeschichtsschreibung und der Museumspolitik?
Mit der Digitalisierung vollzieht die Fotografie entscheidende Schritte von der handwerklich bestimmten Dunkelkammerarbeit zur industriellen Bildherstellung und zur postindustriellen Bildkommunikation. Gesicherte Daten und gleiche Herstellungsbedingungen vorausgesetzt sind die Ergebnisse jederzeit in gleicher Qualität abrufbar. Zwei Drittel aller Papierfotos werden heute von Labordienstleistern hergestellt, ein Drittel kommt aus dem heimischen Tintenstrahldrucker. Speicherscheiben, Internet und Telefonverbindungen revolutionieren die Kommunikationswege. Zuvor waren Fotografien nur mittels materieller Träger, durch Film oder auf Papier anzuschauen, künftig werden sie immer häufiger auf Bildschirmen oder als Pixelprojektionen zu sehen sein. Und anders als in der traditionellen Industrie, die eines großen Kapitaleinsatzes zur Herstellung ihrer Produkte bedarf, kann jeder Kamerabesitzer mit überschaubarem Aufwand an dieser Entwicklung teilhaben. Zeitgemäße Bildfindungen haben nach wie vor mit Know-how, aber immer weniger mit hohem technischem Aufwand zu tun. Darin steckt auch ein Stück Demokratisierung der Bildkultur, – wenngleich diese dabei immer mehr Formen der Zivilisation annimmt.
Was wüssten wir vom historischen Bild unserer Städte ohne die zahllosen Fotografen, die noch nicht nach den Weihen der Kunst strebten? Welche Rolle spielen Fotos in der Wissenschaft und deren gesellschaftlichen Vermittlung? In welcher Weise strukturiert das Schwimmen in der viel zitierten Bilderflut unsere Selbstwahrnehmung und -darstellung? Wer verfolgt die Spuren all der privaten Schnappschüsse, die früher mit Instant- und Polaroidkameras, heute digital, mit Handies oder Wegwerfkameras geknipst werden? Wie unterschiedlich reisen wir durch fremde Länder vor und mit der Fotografie? Welches Museum reflektiert die Wirksamkeit von Fotografien, mit denen Wahlen gewonnen und zuweilen Kriege entschieden werden? …Wenn es der Fotografie nicht nur um Kunst-, sondern um kulturhistorische Bedeutung und Anerkennung geht, muss sie die Besonderheiten, die Eigenständigkeit ihres Mediums bearbeiten. Fotografie ist anders und weit verzweigter gesellschaftlich verwoben als nur auf die Art und in Folge relativer künstlerischer Autonomie: ästhetisch, informell, kommunikationsstrategisch, emotional, triebstrukturell, produktionstechnisch, ökonomisch, mengenmäßig … Das macht das Medium nun schon seit über 165 Jahren spannend und attraktiv. Mit Fotografien leben wir, Kunst hängen einige von uns an die Wand. Deswegen erfährt man durch Fotografien sehr viel mehr über historische Prozesse und gesellschaftliche Zustände als nur durch die Reflexion ihrer ästhetisch-künstlerischen Setzungen. Deswegen bedarf es aber auch anderer Kriterien und Orientierungen, als sie die traditionelle Kunstgeschichte bereitstellt.
Fotografie als Kunst ist wie der Schaum auf den Wellen des Meeres. Die Kunstgeschichte erfasst nur diesen Schaum. Es wird Zeit, mit der Meereskunde zu beginnen.