Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Über-Lagert
KZ-Gedenkstätten: Fotos von Reinhard Matz
Von Jörg Rheinländer
  Der Vergangenheit ihren Platz im Gegenwärtigen einräumen, den Blick zurück in eins setzen mit dem Blick auf das Jetzt und Hier: Das müßte Gedenken sein, im idealen Fall. Nichts anderes aher als der angenommene ideale Fall rechtfertigt die Anstrengung des Gedenkens. Ansonsten verkommt es – zu dem, was es gegenwärtig allzuoft ist: Eine pseudosakrale Veranstaltung des geregelten Vergessens, umhängt mit dem Mäntelchen des Erinnerns. Solches Gedenken muß folgenlos bleiben, weil es sauber trennt: Zwischen dem, was war, und dem, was ist. Das Ergebnis dieser Art des Erinnerns ist eine Hülle aus Betroffenheit.

Die nationalsozialistischen Konzentrationslager, die Orte, an denen Juden, Roma, politisch Andersdenkende und Homosexuelle eingepfercht, erniedrigt, getötet wurden, sie sind heute Gedenkstätten. So redlich die Versuche sind, die Schrecken der Konzentrationslager zu vergegenwärtigen: Am Ausmaß der Verbrechen der Nazis muß jeder Ansatz scheitern. In den Gedenkstätten bleiben die Lager unsichtbar.

"Die unsichtbaren Lager" – das ist der Titel einer Fotoausstellung des Kölner Fotografen Reinhard Matz, die die Arbeitsstelle Fritz Bauer-Insitut zusammen mit dem Deutschen Werkbund in Frankfurt zeigt. Fünf Jahre lang hat Matz sich mit seiner Kamera auf Spurensuche begeben, hat in ehemaligen Konzentrationslagern fotografiert, hat versucht, aufzuzeigen, wie das Erinnern an diesen Orten funktioniert. Das Ergebnis seiner Auseinandersetzung faßt er in einer Zeile zusammen, die deutlicher nicht sein könnte: Das Verschwinden der Vergangenheit im Gedenken.

180 Schwarz-Weiß-Fotos dokumentieren die Diagnose. Unspektakuläre Aufnahmen, die nichts arrangieren. Blicke, die zielgerichtet sind. Ausschnitte, die Details zeigen und damit das Ganze beschreiben. Eine fotografierte Kritik. Eine Kritik freilich, die keine Rezepte bietet, wie es nun besser zu machen sei. "lch kann", sagt Reinhard Matz, "nur festhalten, wie es ist."

Ein unspektakuläres, deswegen jedoch gerade überzeugendes Beispiel ist die Fotografie eines Wachturms in Dachau. Frisch getüncht steht er, das Licht der aufgehenden Sonne macht das Weiß strahlend, eine dunkle Dachhaube schließt den Trum nach oben ab. Hinter der Betonmauer, in die das Bauwerk eingeschlossen ist, ist üppige Vegetation zu sehen, im Vordergrund ein gepflegter Rasen. Ein geradezu friedliches Bild: Es strahlt eine Ruhe aus, der noch die letzte Spur der Geschichte dieses Ortes ausgetrieben ist, übermalt mit ein paar Eimern Farbe.

Ein Galgen, eine Schubkarre, eine Lore aus dem Steinbruch, dahinter eine große, leere Fläche: Zum Stilleben gefroren zeigt Reinhard Matz dieses Arrangement in Natzweiler. Nicht, weil er es so sehen will, sondern weil es dem Betrachter so präsentiert wird. Zeitlos, geschichtslos.

Vergangenheit sind die Fotos, die Modelle zeigen: Vom Steinbruch in Mauthausen, vom Schlafstollen unter Tage im Lager Dora-Mittelbau, von den Baracken in Westerbork. Die Miniaturisierung als Versuch, das nicht mehr Sichtbare zu visualisieren, ist im Resultat immer auch die Verniedlichng des Gezeigten.

Gänzlich grotesk ist das Foto, das zwei Eisenbahnwaggons vor dem verkleinerten Nachbau eines Krematoriums in Auschwitz zeigt. Hier muß niemand mehr den Vergleich ziehen zur Modelleisenbahn: Das Modell ist der Vergleich.

Die Fotografien von Reinhard Matz leisten etwas, was bei der Besichtigung der Orte schlechterdings nicht möglich ist. Sie schaffen eine Distanz zwischen dem Betrachter und dem Gezeigten. Erst aus dieser Entfernung, erst mit diesem zweiten Blick ist überhaupt zu erkennen, wie die Vergangenheit an diesen Orten vergangen bleibt. Und erst auf diese Weise läßt sich eine neue Annäherung konstituieren.

Die genannten Beispiele zeugen von der Hilflosigkeit im Umgang mit einer monströsen Geschichte. Andere Fotos belegen, daß die Konzentrationslager zu Orten eines im Wortsinne bewußtlosen touristischen Interesses geworden sind. In Natzweiler hängen zwei Wegweiser untereinander: Zur Gaskammer 1.500 Meter. Zu den Toiletten 150 Meter. In Birkenau zeigt ein Schild vor den Ruinen der Gaskammer und des Krematoriums, welchen Weg der Besucher zu nehmen hat. Die "Sightseeing Route" ist auf Polnisch, Englisch, Französisch und Russisch ausgewiesen. "Souvenir" steht unschuldig auf der Scheibe eines Ladens vor dem Lager in Auschwitz. Auch wenn "se souvenir" sich erinnern heißt: Nichts suggeriert diese Inschrift weniger als aktives Erinnern. Ob Postkarte in Mauthausen oder Lager-Button wie am Kiosk in Stutthof: Immer möchte der Besucher beweisen, daß er dort gewesen ist. Eine geradezu perverse Verkehrung der Bedeutung dieser Orte.

Es ist unmöglich, die Vielfalt der fotografischen Dokumente wiederzugeben, die in dieser Ausstellung zu sehen sind. Eines ist ihnen allen gemein: Der unterkühlte Gestus einer "armen" Fotografie, wie sie Reinhard Matz selbst nennt. Einer Fotografie also, die jeden Versuch der Ästhetisierung vermeidet, ohne zu behaupten, sie sei das Ergebnis eines objektiven Blickes.

Dazu trägt sicher auch bei, daß Menschen nur dann erscheinen, wenn sie als Motiv Bestandteil von Fotos in der Gedenkstätte sind. Die A-Humanität der Lager wird so deutlich. Niemand verstellt den Blick auf vorgefundene Konstellationen. Reinhard Matz ist nichts weniger als ein schlechter Pädagoge – vielleicht deshalb, weil er ein guter Fotograf ist. Die Fotos der "Unsichtbaren Lager" hat er nicht gemacht, um mahnend den Zeigefinger zu heben. Reinhard Matz ist kein Besserwisser. Seine 180 Fotografien sind ein Anstoß zum Nachdenken.

(Mit Abbildung in: Allgemeine Jüdische Wochenzeitung, Frankfurt, 8.7.1993)