Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons
   Ulf Erdmann Ziegler
Jede Menge Verkleidungen.
(Besprechung Fassade.Köln)
 

Während die Zerstörung alter deutscher Städte nach sechzig Jahren doch noch beweint und die Nachkriegsmoderne zu spät gewürdigt wird, um sie vor den Prunksüchtigen zu retten, ist die Frage nach dem Status quo noch gar nicht gestellt: Was ist denn geschehen mit dem, was uns geblieben ist? Sind unsere Städte wirklich »wiederaufgebaut«? Sind »unsere Städte« überhaupt unsere Städte?

Es kann kein Zufall sein, dass der Versuch einer exemplarischen Antwort von einem Fotografen aus Köln kommt, der zur Tradition der Autorenfotografie gehört – einer Bildästhetik, die in Aufklärung verwurzelt ist. Vier Jahre lang hat Reinhard Matz die Fassaden seiner Wahlheimatstadt Köln fotografiert, rohe, gleichgültige, ängstliche und aus der Form gegangene Gesichter von Gebäuden des 19. und 20. Jahrhunderts.

Köln hat die immense Melancholie nicht abschütteln können, die aus der Zerstörung herrührt. »Colonia« als Urzelle europäischer Zivilisation, ist untergegangen im Bombardement und wiederauferstanden im Baumarktbarock. Allerdings braucht es Fotografien wie die von Matz, um uns auf das Phänomen aufmerksam zu machen: das Debakel im Detail, die Details in ihrer Akkumulation, die Akkumulation als Stadtbild – das Stadtbild als lebendige Karikatur.

Das einzige bauliche Leitmotiv scheinen die zu schmalen Grundstücke zu sein, so dass Straßenfluchten wie Miniaturen erscheinen. Kaum eine Straße trägt die Signatur einer Epoche. Mit der in sich brüchigen historischen Substanz werden seit Jahrzehnten Fassadenspiele getrieben: So beobachtet Matz in der südlichen Altstadt einen heilen Nachkriegsbau, kürzlich grauweiß gestrichen wie ein modernes Teeservice, dem mittig eine gelbgrüne Gründerzeitfassade, Typ Westerwald, vorgehängt ist wie ein Lätzchen.

Das Kleingedruckte der Seele
Von der betonierten Altstadt über die lärmigen Wohnviertel jenseits des Rings bis in die brütenden Siedlungen des oberen Mittelstands hat der Fotograf seine Stadt vermessen und feingezeichnet. Dabei ist eine originelle Systematik entstanden. So nennt Matz die Idyllen niedriger Häuschen, ob alt oder neu, »Kleinstadt Köln«. Über »Straßen, Straßenzüge« entdeckt er »Baulücken, Brandmauern«, vergleicht Wohn- und Gewerbe-»Fassaden«, verengt den Blick im Kapitel »Nachbarn« auf die nahtlose Berührung von Gebäuden und meditiert vor kupferverschmiedeten »Eingängen« über das Kleingedruckte der menschlichen Seele. Die Detailstudie von »Verkleidungen« – (falscher) Klinker, Kacheln, Fliesen, Reliefs – lässt das ganze Unternehmen ins Psychedelische kippen. Die Erfahrung des »Pop«: Unterstellt man dem schlechten Geschmack Absicht, fängt es wirklich an, Spaß zu machen.

Ausstellung und Buch Fassade.Köln haben einen Vorläufer in Die unsichtbaren Lager, Matz‘ haarsträubender Studie von KZ-Gedenkstätten im Vergleich von Parkplätzen, Opferstöcken, Graffiti und Präsentation. Dem unsentimentalen Ansatz entspricht der nüchterne Blick. Seine Fotos sind zwar »gut gemacht«, aber völlig frei von fotografischem Pathos. Fassade.Köln ist also auch offene Kritik an der ins Pompöse gewachsenen Becherschule und deren Epigonen, die gar nicht mehr anders können, als das Geschaute zu romantisieren.

Worauf Matz hinauswill, zeigt seine Ausstellung im Kölner Forum für Fotografie. Dort sind die fotografischen Blätter fast nahtlos und ungerahmt an die Wand gepinnt. Man kann die Bilder gehend, also sehr schnell erfassen, was beim Betrachter den Eindruck zurücklässt, selbst durch die Stadt gefahren zu sein. Trotz der vielen Jahre, die der Fotograf investierte, ist der Eindruck des Schnellen treffend, weil Matz seine Motive mit einer digitalen Kamera gesammelt hat. So konnte er am Computer täglich sein Archiv abgleichen und die Systematik überdenken. Er provoziert nicht nur die Kölnromantiker, sondern auch den fotografischen Markt, indem er die digitalen Bilder (belichtet auf Fotopapier) für dreißig Euro pro Stück anbietet – eine Rückkehr zu dem, was er die »arme Fotografie« nennt.

Matz hat zur Ausstellung ein 256-seitiges Buch ohne weiße Seiten vorgelegt, ein atemloser Parcours mit exakt sechs Zeilen Text auf der Umschlagrückseite, wo es heißt, das kölsche Fassadenbasteln könne man »vom sozialen Standpunkt ungebunden und sympathisch finden, vom ästhetischen ist es oft irritierend, bizarr oder grotesk«. Genauso gut aber könnte man Matz‘ fotografischen Bericht als Zeugnis einer sozialen Krankheit lesen, die Blüten des Individualismus als Zeichen des Verlusts – des Verlusts einer kollektiven Vorstellung dessen, was die Stadt ausmacht, was ihr eigen ist oder war.

Die unglaubliche Aktivität in Bezug auf Kölner Fassaden spricht von einer tiefen Ratlosigkeit, was die Architektur der Stadt betrifft. Der Bastler kompensiert im Kleinen, was er im Großen nicht ändern kann. Man weiß am Ende nicht, was schlimmer ist, der kommerzielle Schlendrian oder der rheinische Bürgerstolz. Mühelos erkennt man in diesem Projekt ein Lehrstück über die »Fassade« der Bundesrepublik, ihrer Städte, Vororte und Dörfer sogar. Köln jedenfalls qualifiziert sich als grandioses Beispiel eines stillstehenden Aschermittwochs.


  (Frankfurter Rundschau; 26.3.2006)