Fototheoretische und fotohistorische Arbeiten und Veröffentlichungen


1998 Reinhard Matz
Mein Foto des Jahrhunderts. Ein Mann am Tiefpunkt



  Mein Foto des Jahrhunderts fand ich in einer Fernsehdokumentation. Eigentlich kein Medium, aus dem einen Bilder anspringen. Dieses schockierte mich.

Ein privates Foto irgendeines Mannes in New York. Schwere Brille, weißes T-Shirt, dunkle Hose, eine Zigarette in der herabhängenden Hand: Allgemeiner, abstrakter, bodenloser läßt sich das Bild eines Menschen kaum vorstellen, undenkbar für vorangegangene Jahrhunderte. Eine Erscheinung, merkwürdig distanziert und verloren zwischen zwei Türpfosten. Hartes Flurlicht verschattet das Gesicht, dessen abwesendes Lächeln zwischen Sarkasmus und Debilität auf eine psychische Grenzsituation schließen läßt.

Dieser Mann ist jedoch nicht irgendwer. Man kennt ihn von anderen Fotografien, wohlfrisiert und im Frack. Von zahlreichen Bühnen der Welt hatte er seinen Charme versprüht. Das war allerdings einige Jahre zuvor. Es ist Harry Frommermann, der sich seit seiner Anerkennung als US-Bürger ausgerechnet Frohman nannte, Gründer und musikalischer Kopf der Comedian Harmonists, jener sechs begnadeten Männerstimmen, die um 1930 mit ihren heiteren, ironischen und sentimentalen Songs von Berlin aus die Welt verzauberten. 150 Titel auf Schallplatten, geschmeidig arrangiert, präzise einstudiert, rasant und betörend leicht vorgetragen. Konzerttourneen, Radiosendungen, Filme: Nach heutigen Maßstäben waren sie Megastars.

Aber nur für kurze Zeit. 1935 gebot die nationalsozialistische Reichsmusikkammer dem Sextett, sich von seinen drei jüdischen Mitgliedern zu trennen. Als die Gruppe darüber zerbrach, war Frommermann gerade mal 28. Die Emigration rettete ihm zwar das Leben, aber nur mittelfristig den Erfolg. Eine auf Auslandstourneen begeisternde Nachfolgegruppe löste sich 1941 auf. Weitere Neugründungen, die Frommermann nach seinem Dienst in der US-Armee leitete, scheiterten in immer kürzeren Abständen. Und niemand scheint sich für ihn als Musiker ohne Gruppe interessiert zu haben. Nichts blieb. Frommermann war in New York allein, machte Umschulungen, verdingte sich als Hafenpacker, Gelegenheitsarbeiter, Taxifahrer, Möbelverkäufer, er wurde verletzt und immer wieder krank ... Das Bild entstand Mitte der 50er Jahre, ein Mann am Tiefpunkt.

Das Foto zeigt keine Umstände und kein wesentliches Stück Geschichte des Jahrhunderts, nichts von seinen sozialen, politischen und technologischen Fortschritten, seinen Verfehlungen, seinen Unglaublichkeiten … Es reflektiert sie in Abwesenheit durch ein einziges, erschütterndes Resultat ihrer vielfältigen Wirksamkeiten.

Das Bild ist von einer Unmittelbarkeit, die mich jede Autorenschaft vergessen läßt, einer Lebensnähe, wie sie nur die Fotografie kennt, die hier gerade dadurch Kunst wird, indem sie auf jede Kunst verzichtet.

Anfang der 60er Jahre wurden Frommermanns Ansprüche auf Entschädigung anerkannt. Aufgrund persönlicher Bindungen verbrachte er seine letzten Jahre als Rentner in Bremen. Da komme ich her. Und vielleicht bin ich diesem geschlagenen Genie einmal begegnet, ohne es zu wissen.

(veröffentlicht in Zeitmagazin Nr. 53 / 22. Dez. 1998, Hamburg)