Ausgewählte Besprechungen in überregionalen Feuilletons


   Steichens Verwandlung
Reinhard Matz interpretiert "Das erste Bilderbuch"
  Nachdem der Zeichner Art Spiegelman Maus abgeschlossen hatte, widmete er sich der Illustration eines schillernden Poems über Sauferei und Totschlag aus dem Jahre 1928. Der Fotograf Reinhard Matz hatte eine komplexe Dokumentation über Die unsichtbaren Lager (die KZ-Gedenkstätten) abgeliefert, als er sich ebenfalls einem leichteren Stoff zuwandte, nämlich Edward Steichens fotografischer Fibel von 1930, The First Picture Book. Everyday Things for Babies. Anders als Spiegelman musste Matz seinen Stoff aber nicht entdecken, denn Steichens Buch war 1991 wieder aufgelegt worden (Das erste Bilderbuch, Scalo Verlag, Zurich). Matz sah das rührende schwarzweiße Bilderbuch also von vornherein als nostalgisches Objekt. Sein farbiges Remake grenzt an eine Persiflage.

Man muss die Vorlage nicht kennen, um zu verstehen, worauf Matz hinaus will. Er zeigt in präzisen Studiofotografien die Welt eines Kindes von heute, ein System von Objekten, die sich verselbstständigt haben. Im gigantischen Bettenpark der Knuddeltiere erkennt man zwar noch ein paar alte Bekannte – Ernie und Bert, Pippi Langstrumpf, den Affen Mungo und eine Barbie-Miss –, aber die Arche der Menschentiere und Frottee-Cartoons hat noch viele andere Passagiere aufgenommen, die Janosch-Wesen sowieso und etliche Namenlose. Lego, in der Postmoderne, zeigt der Fotograf in einem streng diagonal gebauten Stillleben als baulich-technisches Hybrid, gekonnt verknüpft zu einem paradoxen Unding, irgendwo zwischen Gefährt und Behausung.

Das Auffälligste ist – und das hat Matz nicht erfunden–, dass auch die gewöhnlichsten Dinge wie Uhren und Hausschuhe verwandelt werden in Fabelwesen; von der Frühstückstasse grüßt der Dino und von der Zahnpasta sein alberner Halbbruder namens Putzi. Dazu kommt ein kleines Arsenal von Horrorwesen, das gepierct, in Leder und mit Ketten einem Sado-Biker-Magazin entsprungen sein könnte. Die Travestie als zeitgenössisches Gruselmärchen: Dieser Blick ist deutlich geschult an Künstlern wie Richard Prince und Cindy Sherman, vor allem aber an Mike Kelleys grotesken Anverwandlungen des kindlichen Hinterstübchens.

Schwer zu sagen, ob dieses Buch sich überhaupt an Kinder wendet oder nicht vielmehr an Erwachsene, denen die kindliche Sozialisation Rätsel aufgibt. Eben dies hat Matz‘ Remake gemein mit dem Ersten Bilderbuch von Steichen, jenem Fotografen, der später als Kurator die Welt mit der sentimentalen Megashow The Family of Man beglückte. Damals, 1930, fährt Steichen das Programm der Reduktion, um kindliches Staunen zu simulieren, anhand eines Balls, eines Wasserhahns oder Schwarzbrots. Matz will nicht nur zeigen, dass es die ,,guten, alten Dinge“ nur noch im spezialisierten Versandhandel gibt, sondern adaptiert unterschwellig Steichens fotografische Pädagogik, die in jedem Stück das Lehrstück sieht. Insofern verbessert sein Entwurf nicht die Vorlage, sondern macht sich ihre Kuriosität zu Nutze, ihren enzyklopädischen Eifer. Im Vorwort von Andreas Haus, der über die Tradition der Bilderfibel nachdenkt, finden sich einige der Steichen-Fotografien zum Vergleich.

Wer aber Das erste Bilderbuch mit Matz‘ Remake abgleicht, erkennt, dass der Fotograf nicht nur einzelne Bilder, sondern auch die Dramaturgie der Vorlage neu interpretiert hat. Anders als Steichen damals gesteht Matz jetzt sich ein, dass es ein Bündnis zwischen den Kindern und der Industrie gibt, die durch eine häusliche Pädagogik nicht mehr vermittelt werden kann. Oder doch: nämlich den Eltern durch die Kinder, weshalb der Fotograf das Buch auch seiner Tochter gewidmet hat. Das krasse Bilderbuch mit allen seinen Hintergedanken hätte einen besseren Titel verdient als Verspielt, der suggeriert, dass das Werk augenzwinkernd daherkomme. In Wahrheit ist es abgründig – wie jede ernst zu nehmende Betrachtung der Kindheit.

ULF ERDMANN ZIEGLER
(Mit Abbildung in Frankfurter Rundschau vom 1.7.2000
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